Der 3. Pfeiler: das Tun


Der dritte Pfeiler zur Realisation: Das alltägliche Handeln - die gelebte Seinsweise

Sie stehen am Meer und geniessen ganz den Moment. Endlich können Sie loslassen und sich entspannen. Drei Wochen Urlaub. Und Sie haben dazu noch einige Aktivitäten gebucht. Morgen früh wird es losgehen: Yoga am Strand, dann eine halbe Stunde Joggen. Nach dem Frühstück ein Seminar über Glück und Erfolg im Leben und der Arbeit. Sie sind zwar etwas erschöpft von den vielen Aufgaben im Beruf, wollen es mit mehr Effizienz schaffen und nicht völlig ausbrennen. Ein Burnout-Syndrom haben Sie noch nicht. Für Ihren Job brauchen Sie einfach mal Abstand, denken darüber nach, ob Sie noch an Ihre Vision glauben oder ob Sie sie inzwischen verloren haben. Sie erhoffen sich von diesem Seminar eine professionelle Anleitung, wie sie Ihr Leben besser organisieren, wie Sie Ihre Intuition entwickeln können, denn Sie haben eine kreative Beschäftigung. Sie haben Verantwortung. Darüber werden Sie dann in der nächsten Woche ein weiteres Seminarangebot nutzen. Da wird es auch um Integrale Wirtschaft gehen, um Integrale Politik, um Integrale Spiritualität.

Dazwischen am Nachmittag und manchmal auch am Abend Qi Gong, Tai Ji, Meditation, Achtsamkeitstraining. Also ein volles Programm. Wenn die drei Wochen vorbei sind hoffen Sie erholt und fit zurückzukehren. Mit vielen guten Vorsätzen, mit neuen Ideen im Kopf. Ihr Leben soll sich ändern.

Für die Realisation von GEWAHRSEIN möchte ich Ihnen hier aber keine Erfolgsrezepte geben, wie Sie es erlangen können. Denn alle Menschen haben schon GEWAHRSEIN. Es ist nichts, was Sie erlangen könnten, sondern etwas, das Sie zunächst nur als Gegenwärtigkeit zu erfassen haben und diese dann zu einer Seinsweise in Ihrem Leben werden zu lassen. Es muss Ihnen bewusst werden. Es wird Ihr waches Leben verändern, aber auch Ihr Traumleben und die Unbewusstheit des Tiefschlafs.

Alles Wissen, alle Übungen und Anstrengungen zum Erfolg im Leben, in der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur wollen alle nur die eine Seite der Münze verändern und verbessern. Denn da gibt es immer was zu tun. Sie sehen und hören täglich, was es für Probleme in der Welt gibt: Hungersnöte, Kriege, Wirtschaftskrisen, Umweltprobleme, Unwetter, Armut, Beziehungsdelikte, Verwahrlosung, Missbrauch, Folter, Bildungsnot, Terrorismus, Fundamentalismus... Die Liste ist lang. Und viele Menschen fühlen sich ohnmächtig und den Umständen ausgesetzt, in ihren Städten nicht mehr sicher, vertrauen auch den Banken nicht mehr. Sie sorgen sich um die eigene Zukunft und die der anderen und der Welt. Der religiöse Glaube, der vielen früher noch Halt und Sinn im Leben gegeben hat, schwindet.

Die Neurowissenschaft zeigt auf, dass wir auch neuronale Strukturen haben, die das Zusammenleben der Menschen fördern. Es gibt nicht nur egoistische Gene wie Richard Dawkins noch in seinem Bestseller meinte. Die ersten lebenden Systeme auf der Erde bestanden aus kooperierenden und kommunizierenden Proteinmolekülen. An der Universität von Parma/Italien wurden 1992 vom Hirnforscher Giacomo Rizzolatti und seinen Mitarbeitern die Spiegelneuronen entdeckt, Zellen, die beim Beobachten die gleichen Reaktionen im Gehirn zeigen wie beim selbständigen Handeln. Wenn wir zusehen, wie sich ein Kind verletzt, fühlen wir selbst etwas von dem Schmerz und fühlen mit. Dieses Mitfühlen ist die Grundlage für die Empathie, das Mitempfinden und Einfühlen, wenn wir mit anderen zusammen sind. Somit gibt es tatsächlich so etwas wie ein Prinzip Menschlichkeit, für das wir uns heute aus ethischen Gründen einsetzen, z.B. bei den Menschenrechten.

Es gibt nicht nur Gene, die für die Kooperation und Kommunikation mit anderen Menschen eine Rolle spielen. Bereits Richard Dawkins hatte in seinem Werk erstmals den Begriff Meme für die kulturellen Replikatoren verwendet, um zu zeigen, dass nicht nur die Gene das Leben weitergeben und zur Fortentwicklung in der Evolution beitragen, sondern in Analogie dazu andere Replikatoren, die die kulturellen Errungenschaften von Gehirn zu Gehirn weitergeben. Viele unserer Handlungsweisen und Ansichten sind deshalb geistiges Erbe und werden von den Memen weitergegeben. Das können Kleidermoden, Melodien, Tänze, Redeweisen, Denkstile, Techniken usw. sein. Viele solcher Meme fügen sich wie die Gene zu Pools zusammen und bilden dann Memkomplexe.

Clare W. Graves (1940 - 1986), Professor für Psychologie am Union College in Schenectady, New York, hat in den 60er Jahren ein Ebenenmodell für die Persönlichkeit entwickelt, das von Don Beck und Chris Cowen zur Spiraldynamik der Meme weiterentwickelt wurde. Ken Wilber hat es dann von ihnen übernommen und für die Hierarchie seiner Entwicklungsstufen verwendet. Demographische Untersuchungen haben ergeben, dass die Verteilung der Meme in den verschiedenen Ländern und Kulturen sehr unterschiedlich ist. Daraus resultierten die verschiedenen Konflikte in der Welt. In der westlichen modernen Gesellschaft herrscht die Meme des rationalen und am Fortschritt orientierten Denkens vor (in der Grafik orange dargestellt). Neue Entwicklungsstufen sind im Kommen. Die Entwicklung einer Kultur des GEWAHRSEINS ist noch nicht in Sicht.

Die andere Seite der Münze einbeziehen

Alle Bemühungen zielen in der Regel darauf ab, die zweite Seite der Münze bzw. das Feld der Wahrnehmungswelt - innen wie aussen - zu verändern und zu verbessern. Dadurch werden aus eckigen Strukturen vielleicht rundere oder eine überschaubare Ordnung wie beim Bau eines Hauses aus Backsteinen (siehe Grafik und weitere Ausführungen dazu unter Samkhya). Das ist auch okay so! Und viele Erfolgsrezepte fruchten auch und können eine grosse Hilfe für jeden Menschen und die Welt sein. Selbst für die Realisation von GEWAHRSEIN brauchen wir einige dieser Hilfen und Werkzeuge, die jene Prozesse von Erkenntnis, Achtsamkeit, Geistesvertiefung steuern können. Es gilt ja, dass die Hindernisse und Widerstände überwunden und aufgelöst werden, die ein dauerhaftes GEWAHRSEIN verunmöglichen. Darunter sind auch solche, von denen wir annehmen, dass sie an sich wichtig und nötig sind. Wir wissen heute aber zu wenig über die Prozesse und Inhalte, wie sie zu Veränderungen führen. Einige Wissenschaftler vermuten, dass dies auf der Quantenebene stattfindet. Die Naturwissenschaft hat unser Weltbild so verändert, dass die Prinzipien von Ursache und Wirkung und das lineare Denken zur Zeit noch nicht in Frage gestellt werden. "Bedingtes Entstehen" wie es Buddha formuliert hat ist noch weitgehen unerforscht.


Auch die Bewusstseinsentwicklung und Evolution versteht man heute meist so, dass sie linear und exponentiell in die Zukunft laufen. Bereits Buddha hatte aber schon erkannt, dass es anders ist und entwickelte eine zirkuläre Folge in allen Richtungen mit unterschiedlichen Kombinationen von Bedingtheiten (das ist seine Kette des Bedingten Entstehens). Buddhas Lehre vom Achtfachen Pfad beinhaltet fünf weitere Disziplinen, um die es hier beim dritten Pfeiler geht:

2. Rechte Absicht und rechte Gesinnung
3. Rechtes Denken
4. Rechtes Handeln
5. Rechte Lebensführung
6. Rechte Anstrengung

Weisheit war in der alten östlichen wie in der antiken westlichen Welt eine Tugend und befasste sich mit dem Wahren, Guten und Schönen. Es war eine Synthese von Wissenschaft, Ethik und Kunst, aber nicht nur das, auch die Philosophie der Einsicht und des GEWAHRSEINS spielte in ihren höchsten Formen eine grosse Rolle. Denn dieses ist es, dass wir überhaupt Bewusstsein haben, intelligent sind (Unterscheidungsfähigkeit entwickelt haben) und schöpferische Intuition für kulturelle Leistungen haben. Im GEWAHRSEIN erscheint alles, was unser In-der-Welt-sein ausmacht. Und das ist der entscheidende Punkt:

Das bist Du - oder wie es die frühen Inder realisierten, wenn sie auf die Welt schauten: tat twam asi.

In den Erscheinungen kehren unsere Taten wieder. Das Wahrgenommene ist nicht vom Wahrnehmer zu trennen, wie es heute auch die Neurowissenschaft erkennt. Oder wie es im Konstruktivismus und der Phänomenologie formuliert wird: Wir sind für das voll verantwortlich, was immer zur Wahrnehmung kommt. Es sind unsere Konstrukte. Und es sind auch die Reaktionen und Antworten, die aus dem grösseren Lebensfeld kommen. Unser Lebensleib, um dessen Wohl wir uns so sorgen, bedingt unser Lebensfeld, um das wir uns dann auch sorgen. Und in vielen Fällen schreiben wir es aber jeweils den anderen und den Lebensumständen zu, wenn es uns nicht so gut geht oder die Welt von Krisen geschüttelt wird.

Auch Immanuel Kants (1724 - 1804) Kategorischer Imperativ des Handelns muss hier genannt werden. Er besagt, dass alle Menschen ihre Handlungen darauf zu prüfen haben, ob sie einer für alle, jederzeit und ohne Ausnahme geltenden Maxime folgen und dabei das Recht aller betroffenen Menschen berücksichtigen und nicht zum Eigennutz oder nur als Mittel zum Zweck verwenden. Oder populär: "Was Du nicht willst, dass man Dir tu', das füg' auch keinem anderen zu."

Das Tun muss aus diesen Gründen also neu bedacht und eine andere Grundlage haben. Weil beide Seiten zu EINER Münze gehören und nicht getrennt werden können, ist es auch unmöglich, nur Reines GEWAHRSEIN zu sein oder das Bewusstsein völlig von allen Inhalten zu leeren. In der Leere ist stets die Fülle. Und in der Fülle immer die Leere.

Fazit: GEWAHRSEIN kann zur bewussten Seinsweise werden. Mit dem nötigen Wissen und der Achtsamkeit lernen wir, uns stets weise zu verhalten und angemessen zu handeln.