Der Geist des Zen


Die Wurzeln des Zen im Yoga, in der Lehre des Buddha und im Daoismus

Wie schon auf den Seiten Yoga und Samkhya beschränke ich mich auch hier auf die Geschichte des Zen in Hinblick auf GEWAHRSEIN.

Das Wort Zen bedeutet "Sitzen in Versenkung" und ist die japanische Lesart für das chinesische Wort Ch’an. Und dieses ist wiederum von dem Sanskritbegriff dhyana und jhana abgeleitet, was Kontemplation oder Meditation bedeutet. Das japanische Schriftzeichen für Zen bedeutet auch "loslassen". Und weil zu dieser Meditation eine Sitzhaltung eingenommen wird, wird Zen auch vielfach Zazen genannt, was soviel wie "Sitzen, um loszulassen" bedeutet. Wichtig ist also das "richtige Sitzen" mit hoher Wachsamkeit und Konzentration.

Zen hat diese Sitzhaltung mit übereinander geschlagenen Beinen und aufrechter Wirbelsäule aus der Tradition des Yoga übernommen wie sie auch Buddha schon aus seiner Lehrzeit bei den Yogis der Wälder kennengelernt hatte. Man konzentriert sich auch heute noch anfangs auf die Atmung oder bestimmte Körperzentren und sitzt in aufrechter Haltung. So führt seit Jahrtausenden eine direkte Linie vom Yoga über Buddha zum Zen.

Auf diesem Weg wurden aber nicht alle Elemente dieser Lehren übernommen. Yoga postulierte noch ein Selbst, Atman/Purusha, als eine Instanz, die sich vom niederen, gewöhnlichen Ich oder der individuellen Natur des Menschen (pashu) unterschied. Purusha war der "wahre Mensch" oder der "Mensch im Menschen". Buddha verwarf die Existenz eines Ich/Selbst und lehrte anatman oder anatta, das "Nichtselbst" oder die Nichtexistenz eines solchen Ich/Selbst. Zudem war seine Lehre nicht theistisch und damit frei von allen Glaubensvorstellungen, mythischen Gottesbildern, Gebeten, Ritualen usw.

Schon einige Jahrhunderte vorher war in Buddhas Geburtsgebiet die Samkhya-Philosophie entstanden, die Anfänge einer rational begründbaren Philosophie, die von den beobachtbaren Gegebenheiten ausging und die Erkenntnis als praktischen Weg zur Überwindung des Leidens zum Ausgangspunkt nahm. Ebenso bei Buddha, der samma vidya, das "Rechte Wissen" als erste Disziplin seines Achtfachen Pfades zur Befreiung und Erleuchtung setzte.
Die Yogameditation wurde bei Buddha in der siebten (Rechte Achtsamkeit) und achten Disziplin (Rechte Geistesvertiefung) differenziert und erweitert. Wie im Samkhya lehrte Buddha die Entstehung eines Ichs als eine Funktion aus dem Bedingten Entstehen und widersprach und verwarf damit die Existenz eines vom Leib unabhängigen Wesens (eine Seele bzw. einem Selbst), das auch nach dem Tod in einem Jenseits weiterlebt, wie es noch in den Veden angenommen wurde. Im Samkhya ist das Ich eine Funktion des aus Tattwas zusammengesetzten "inneren Organs" (antahkarana), wovon der "Ich-Macher" (ahamkara) ein Tattwa unter einigen anderen ist, ein Konstrukt.

In der Zen-Philosophie wird das Nicht-Selbst aus der Lehre des Buddhas übernommen. Und noch schärfer wird darin sogar die gesamte Erscheinungswelt als "Leere" oder "Nichts" (shunyata) postuliert.

Buddhas Lehre konnte in seinem Ursprungsland Indien nicht Fuss fassen. Aus vielen verschiedenen Schulen des Frühbuddhismus gingen vor allem zwei Strömungen hervor: Erstens die Sarvastivadin, die während eines Jahrtausends eine starke Aktivität in Nordwestindien, über Gandara bis nach Afghanistan im Westen und Kaschmir im Osten hin entfalteten. Und zweitens die Schule des Theravada, die in Sri Lanka ihren Hauptsitz hatte und bis heute noch in Südostasien verbreitet ist. Der Theravada nimmt auch für sich den Pali-Kanon in Anspruch, die Lehrreden des Buddhas, vor allem den dritte Korb, der als Abhidharma bekannt ist.

Das erste Konzil fand 483 v. Chr. statt, hundert Jahre später das zweite. Die meisten Teilnehmer waren die Theravadins, die "Anhänger der Lehre der Alten". Es gab aber auch einige Erneuerer, die sich "Anhänger der grossen Gemeinde" (Mahasanghikas) nannten. Um die Jahrhundertwende entwickelte sich aus dem Mahasanghika das "Grosse Fahrzeug" (Mahayana). In der weiteren Entwicklung finden sich zwei bedeutende Systeme, die auf den Mahayana grossen Einfluss hatten: Der "Mittlere Weg" (Madhamika) und die "Bewusstseinslehre" (Vijnanavada), die auch "Wandel im Yoga" (Yogacara) genannt wird. Yogacara wurde von Asanga und Vasubandhu im 4. - 5. Jh. n. Chr. schriftlich formuliert.

Die Lehre des Mahayana und die damit verbundenen Meditationspraktiken breiteten sich in weiter Folge nach China aus. Im 150 n. Chr. wurden von dem buddhistischen Mönch An Shih-kao die ersten Meditationstexte übersetzt. Der chinesische Daoismus (auch Taoismus geschrieben) kannte bereits aus seiner Frühgeschichte (1000 - 2590 v. Chr.) Meditationspraktiken. "Das Geheimnis der Goldene Blüte", das der Sinologe Richard Wilhelm (1873 - 1930) übersetzte, ist ein solcher Text. Die Suche nach Unsterblichkeit war ein zentrales Thema des Daoismus. Lao-tse, der Verfasser des bekannten Werkes Daodejing (auch Taoteking), soll um 600 v. Chr. gelebt haben. Dao ist eine Bezeichnung für das grosse Eine, für das, "was nichts mehr über sich hat" oder auch "Das durch sich selbst Seiende", der höchste Sinn. In dem "Grossen Einen", das als Kreis dargestellt wurde, befinden sich die dynamischen Prinzipien Yin und Yang, die man als Geist und Materie, GEWAHRSEIN und Phänomenwelt verstehen kann. Diese Elemente der chinesischen Theorie und Praktiken wurden im Zen übernommen und gingen mit dem Mahayana-Buddhismus eine Synthese ein. Eine Hochblüte erlebte der chinesische Buddhismus durch Seng-chao (384 - 414), der das Prajnaparamita-Sutra abfasste, worin die Quintessenz des Mahayana zum Ausdruck kommt. Seine Ansichten wurden von Zen-Meistern hoch geschätzt. Wichtige andere Texte des Mahayana sind das Lankavatarasutra, das Diamantsutra und das Herzsutra. Das Diamantsutra stammt aus China und wurde als Holztafeldruck hergestellt und ist wohl das älteste Buchdruckerzeugnis der Menschheit (868 n. Chr.). Das Herzsutra wurde aus dem Sanskrit ins Chinesische übersetzt (7. Jh.) und enthält die bekannte Textstelle "Leere ist Form, Form ist Leere".

Die frühen Patriarchen des Zen und Zen als Reformbewegung

Ein weiterer wichtiger Text der Literatur des Mahayana-Buddhismus ist das Lankavatarasutra, das vermutlich im 3. Jh. entstanden ist und 443 aus dem Sanskrit ins Chinesische übersetzt wurde. Bodhidharma brachte es gegen Ende des 5. Jh. nach China. Darin wird die Nur-Geist-Lehre der Yogacara-Schule vertreten. Berühmter Ausspruch: "Alles Sein ist nur Geist".

Bodhidharma (440 - 528) gilt als 1. Patriarch des Zen. Er wurde in Kanchipuram in Südindien geboren und reiste um 480 nach China. Er soll dort im heute noch existierenden Shaolin-Kloster die Mönche in einer besonderen Philosophie der Selbstbetrachtung unterwiesen und zusammen mit ihnen den Chan-Buddhismus begründet haben, der zur Grundlage für den späteren Zen-Buddhismus wurde. Bodhidharma wird ein berühmter Vierzeiler zugeschrieben, der Zen charakterisiert:

Eine besondere Überlieferung ausserhalb der Schriften,
unabhängig von Wort und Schriftzeichen:
Unmittelbar des Menschen Herz zeigen, -
die eigene Natur schauen und Buddha werden.

Der 2. Patriarch war Hui-ko oder Eka, der 3. Seng-tsan oder Sosan, der 4. Tao-hsin oder Doshin, der 5. Hung-jen oder Gunin.

Eine besondere Schrift ist das "Sutra des 6. Patriarchen" des chinesischen Zen-Meisters Hui-neng (638 - 713), der zunächst als Küchenjunge im Kloster des 5. Patriarchen Dienst tat. Er hatte schon in jungen Jahren GEWAHRSEIN realisiert und konnte, obwohl des Schreibens unkundig, die Prüfung bestehen, die der Meister den Schülern aufgab als dieser seinen Nachfolger bestimmte. Er liess einen Spruch an eine Klosterwand schreiben, der die Quintessenz der Lehre ausdrücken sollte. Die Mönche liessen dem Hauptmönch Shen-hsiu den alleinigen Vortritt, doch der Meister erkannte an seinem Spruch, dass dieser noch nicht erwacht war.
Auch Hui-neng hatte erkannt, dass dieser Vers die Lehre nicht trefflich ausdrückte und liess einen Vers an die Wand schreiben. Da erkannte der Meister, dass er es verstanden hatte und übergab ihm in der Nacht seine Robe, das Kennzeichen der Nachfolge. Aber er müsse fliehen, denn Shen-hsiu und die anderen Schüler würden ihn als Meister nicht akzeptieren. So wurde das Kloster unter dem inkompetenten Shen-hsiu weitergeführt. 5 Jahre hielt sich Hui-neng verborgen und lehrte dann im Süden des Landes . Seine Lehre war: Erleuchtung ist der eigene Geist, der frei von Verblendung ist. Der so ist, wie er ursprünglich ist: natürlich, unbefangen und rein. Zum Buddha werden bedeutet deshalb zum ursprünglichen GEWAHRSEIN zu erwachen.

Das Ereignis war eine Reform des Zen. Aber auch schon in früheren Jahrhunderten war der Chan-Buddhismus eine Reformationsbewegung, die sich gegen den Mahayana-Buddhismus wandte, in welchem Buddha als gottgleiche transzendentale Wesenheit verehrt wurde und dem erleuchtete Bodhisattwas zur Seite standen. Die Bodhisattwas, erleuchtete Wesen, verzichten auf den Eingang ins ewige Nirwana, um den Menschen zu helfen. So wurde der Mahayana-Buddhismus zu einer Religion mit einer neuen Priesterschaft und den heiligen Bodhisattwas. Dies hatte Buddha nicht gelehrt und für sich in Anspruch genommen.

Zen besann sich auf die ursprüngliche Lehre des Buddhas und wurde damit zu einer Oppositions- und Reformbewegung. Ab dem 12. Jh. kam Zen nach Japan, wo es heute noch lebendig ist. Es sind vor allem zwei Schulen, die sich besonders herausgebildet haben: Soto und Rinzai. Im Soto-Zen praktiziert man mehr die reine Sitzmeditation in Stille, im Rinzai arbeitet man zusätzlich mit den Koans, das sind kurze Texte, die wie absurd klingende Rätsel und paradoxe Redewendungen erscheinen und den Schülern zur Reflexion aufgegeben werden. Bekannt ist z.B. die Frage: "Wer warst Du, bevor Deine Eltern geboren wurden?" oder "Hat ein Hund Buddhanatur?". Intellektuell können diese Fragen nicht gelöst werden und das Denken wird an die äusserste Grenze geführt, um dann an einem bestimmten Punkt zusammenzubrechen. Dann kann eventuell GEWAHRSEIN realisiert werden und dem Meister eine originelle Antwort gegeben werden. Rinzai ist 1191 von Myoan Eisai in Japan eingeführt worden. Die Lehre gründet auf den grossen Zenmeister Linji Yixuan (japanisch Rinzai Gigen), der 866/867 starb.
Für Textstellen über GEWAHRSEIN bedeutsam sind weiter die Zenmeister Huangbo Xiyun (Huang-po, gestorben 850) und Bankei Eitaku (1622 - 1693), der Verfasser "Der Zen-Lehre vom Ungeborenen". Das Ungeborene ist GEWAHRSEIN. Bankei lehrte in diesem natürlichen GEWAHRSEIN zu verweilen, Huangbo, dass dieses GEWAHRSEIN "keine Grade kennt und alle anderen Methoden nur Äonen unnötiger Leiden und Mühen sind." Ein weiterer bekannter Ausspruch ist: "Das, was Du jeden Augenblick vor Dir hast, ist dieses Buddha-Wesen, ausser dem es nichts anderes gibt."

Im 19. und 20. Jahrhundert machten die Zen-Schulen grosse Veränderungen durch. Die Klöster öffneten sich auch für ausländische Schüler und es wurde ein Laien-Zen begründet. Selbst einige christliche Mönche wendeten sich der Zen-Meditation zu und brachten Zen in den Westen. So z.B. der Jesuitenpater Hugo Enomiya-Lassale (1898 - 1990) oder den Benediktiner Cyrill von Korvin Krasinski (1905 - 1992).

Besonders bedeutsam für GEWAHRSEIN und eine Reformbewegung des Zen ist auch der Zenmeister und Professor für Philosophie an der Universität von Kyoto, Hoseki Shinichi Hisamatsu (1889 - 1980), der eine "Philosophie des Erwachens" als eine Alternative zum theistischen, humanistischen und nihilistischen Weltbild angeboten hat.

Fazit: Zen ist eine Praxis und Philosophie, die als letztes Ziel das Erwachen zum GEWAHRSEIN hat.